Gebet
Gebete zu den Heiligen
„Wie ist es den Heiligen möglich uns Menschen und unsere Nöte zu sehen, und wie hören sie unsere Gebete? Ziehen wir einen Vergleich. Nehmen wir an, ihr würdet auf die Sonne umziehen, und euch mit ihr vereinen. Die Sonne erhellt mit ihren Strahlen die ganze Erde, jedes Staubkorn auf der Erde. Durch diese Strahlen wie durch ein Rohr seht ihr die Erde; doch ihr seid im Vergleich zu der Sonne Winzlinge, sodass ihr sozusagen nur einen Strahl bildet, die Sonne jedoch hat jede Menge davon. Die Strahlen bilden mit der Sonne eine Einheit und wirken bei der Erleuchtung der Welt mit. So sieht auch die heilige Seele, indem sie sich mit Gott vereint, wie mit einer geistigen Sonne, die das All erleuchtet, alle Menschen und die Nöte der Betenden“ (Johannes von Kronstadt, „Mein Leben in Christus“; Übersetzung aus dem Russischen).
Orthodoxes Glaubensbuch - Morgen- und Abendgebete
Das Gebet ist Lebensgemeinschaft mit Gott und nicht nur Bitten und Bereuen. Die Heilige Schrift lehrt uns ständig zu beten. Dennoch gibt es im Laufe des Tages besondere Stunden, die der Christ dem Gebet widmen sollte. Das ist der Morgen, wenn wir aufstehen und uns auf die tägliche Arbeit vorbereiten, aber auch der Abend, wenn wir uns zur Ruhe begeben. Die Kirche hat diese Stunden nicht zufällig für das Gebet bestimmt. Am frühen Morgen, wenn der Geist noch nicht mit der Geschäftigkeit und den Sorgen des Lebens erfüllt ist, können wir unsere Gedanken am leichtesten nach oben, auf Gott, richten. Wenn man sich bemüht, im Laufe des Tages die fromme Grundeinstellung beizubehalten, die mit den Morgengebeten geschaffen wurde, wird der Tag auch christlich zu Ende gehen. Wie viele böse Taten würden nicht begangen werden, wenn die, die sie tun, am Morgen den Herrn gebeten hätten: “Vergib uns unsere Schuld!”
Durch das Gebet wird der Anfang für einen guten Tag gesetzt, wir schaffen in uns eine fromme Gesinnung, und Gott wird uns gemäß unseren Bitten Erfolg in guten Taten schenken. Wer am Morgen betet, weiß, dass das Gebet hilft, den Tag gedeihlich zu verbringen: es ist so, als würde uns der Schutzengel in seine Arme nehmen und unsichtbar über die Hindernisse des Lebensweges tragen. Alles gelingt schneller und besser, und Misserfolge werden leichter ertragen.
Die Abendgebete ermöglichen es, sich leichter von den irdischen Dingen des Tages zu trennen, ihre Last von sich abzuwerfen und Gott zu bitten, dass Er die kommende Nacht für uns friedlich und ruhig mache, damit sie uns für die Arbeit am nächsten Tag Kraft schenke. Die Ruhe und Erhabenheit der Nacht helfen, uns an Gott, den Schöpfer der Welt, zu erinnern und Ihm dafür zu danken, dass Er uns im Laufe dieses Tages und der vorangegangenen Tage und Jahre unseres Lebens beschützt hat.
Die Kirche hat die Morgen- und Abendgebete als tägliche Regel für die orthodoxen Gläubigen eingeführt; sie sind von heiligen Menschen verfasst worden und durchtränkt mit dem Geist ihres asketischen Lebens, das zur Gänze Christus geweiht war.
Den Aufbau der Morgen- und Abendgebete kann man im Gebetbuch (molitvoslov) finden. Ihre Ordnung ist feststehend und ändert sich nur an den Ostertagen (siehe weiter unten). Die Gebetsordnung wird als Regel bezeichnet, d. h. die Gebete und ihre Abfolge sind festgelegt. Man unterscheidet: die morgendliche, die Tages- und die abendliche Regel und die Regel der Gebete zur heiligen Kommunion. Die Mönche und Geistlichen fügen zur gewöhnlichen Regel noch besondere Gebete hinzu. Jede dieser Gebetsregeln hat fast den gleichen Beginn, die Eröffnungsgebete:
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Ehre sei Dir, o Gott, Ehre sei Dir.
Heiliger Gott, Heiliger Starker, Heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser (dreimal).
Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Allheilige Dreifaltigkeit, erbarme Dich unser...
Herr erbarme Dich (dreimal).
Ehre sei dem Vater...
Vater unser...
Danach folgen die übrigen Gebete.
Warum soll man aber schon von anderen Menschen formulierte Gebete verwenden, und den Herrn nicht mit eigenen Worten um etwas bitten oder für etwas danken?
Die Kirche verbietet uns nicht, mit unseren eigenen Worten zu beten. Mehr noch, sie regt dies sogar an und schreibt es vor, z. B. in der morgendlichen Regel: “Danach sprich ein kurzes (persönliches) Gebet für das Heil Deines geistlichen Vaters, Deiner Eltern, Verwandten, Vorgesetzten, Wohltäter, Bekannten, Kranken oder Trauernden!” So können wir mit eigenen Worten das ausdrücken, was unsere Bekannten oder uns selbst betrifft und nicht in den im Gebetbuch enthaltenen Gebeten gesagt wurde.
Wenn wir jedoch allein mit persönlichen Worten beten, sogar wenn sie der Tiefe der Seele entspringen, bleiben wir nur auf unserem eigenen geistlichen Niveau, da wir ja nicht die geistliche Vollkommenheit der Heiligen erreicht haben. Wenn wir uns aber den Gebeten der Heiligen anschließen und in ihre Worte einzudringen versuchen, erklimmen wir jedes Mal eine etwas höhere und vollkommenere Stufe. So wie ein Musikinstrument nach dem Kammerton gestimmt wird, so findet auch unsere Seele den richtigen Ton in den Gebeten der Heiligen.
Ein Beispiel dafür, wie man beten soll, gab uns der Herr selbst. Das Gebet, das Er Seinen Jüngern hinterließ, heißt das Gebet des Herrn. Es ist in jedem Gebetbuch enthalten und hat auch seinen festen Platz in vielen Gottesdiensten. Es ist das “Vater unser”.
Zeit und Ort des Gebets
Die Morgen- und Abendgebete dauern nur zwanzig Minuten, heiligen aber Tag und Nacht, all unsere Taten und Gedanken, den Schlaf und das Wachen; sie gewähren uns Gottes Hilfe.
Viele, welche die Gebetsregeln nicht praktizieren, rechtfertigen sich damit, dass die Zeit nicht reicht. Sie sollten bedenken, wie viele Stunden sie mit sinnlosen Gesprächen, Vergnügungen und Müßiggang verbringen. Kann man denn nicht wenigstens einen kleinen Teil dieser Zeit dem Nutzen der Seele widmen? Denn auch die beschäftigtsten Menschen sollten wissen: wenn Gott nicht will, werden alle ihre Bemühungen umsonst sein. Die dem Gebet gewidmete Zeit wird im Überfluss zurückgegeben werden, der Herr wird alles so lenken, wie wir es nicht vorhersehen können, um vieles besser und schneller. Man darf auch nicht vergessen, dass sich jeder Christ von einem ungläubigen Menschen eben dadurch unterscheidet, dass er sich mehr um seine Seele sorgt als um irdische Dinge.
Obwohl man vor den heiligen Bildern, den Ikonen, beten sollte, muss man doch oft, besonders wenn man in Eile ist, die Gebete in den öffentlichen Verkehrsmitteln verrichten. Das ist etwas ungewöhnlich, aber es ist besser so zu beten, als überhaupt ohne den Segen Gottes zu bleiben. Gott hört diejenigen, die Seinen Namen anrufen, überall. Er hört nur diejenigen nicht, welche die Worte des Gebetes mechanisch sprechen, ohne Anteilnahme ihrer Gedanken und ihres Herzens. Deshalb hat der heilige Johannes von Kronstadt gesagt, es sei besser, lieber weniger Gebete zu verrichten, aber dafür bewusst, und jedes Wort mitvollziehend, als viele Gebete, diese jedoch in Eile und mit dem Bemühen, möglichst schnell fertig zu werden.
Dasselbe meinte auch der ehrwürdige Serafim von Sarov, als er seinen geistlichen Kindern eine kurze Gebetsregel empfahl. Sie heißt Regel des heiligen Serafim von Sarov. Sie lautet folgendermaßen:
Nach dem Schlaf und dem Waschen soll man sich vor jeder anderen Tätigkeit vor die Ikonen stellen, ehrfürchtig bekreuzigen und dreimal das Gebet des Herrn “Vater unser” sprechen; danach dreimal das Gebet “Gottesgebärerin, Jungfrau, freue Dich” und schließlich das “Glaubensbekenntnis”.
Die Regel des ehrwürdigen Serafim von Sarov ist mit diesen drei Gebeten aber nicht erschöpft. Vor dem Mittagessen, wenn man arbeitet oder unterwegs ist, sollte man für sich das Jesusgebet sprechen: “Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, hab Erbarmen mit mir Sünder.” Wenn man sich aber unter Menschen befindet, in Gesellschaft, so sollte man einfach “Herr, erbarme Dich” sprechen.
Vor dem Mittagessen soll man abermals die drei Gebete sprechen, wie es oben beschrieben wurde, nach dem Mittagessen aber unablässig wiederholen: “Allheilige Gottesgebärerin, errette mich Sünder.” Oder wenn man alleine ist: “Herr Jesus Christus, durch die Gebete der Gottesmutter, hab Erbarmen mit mir Sünder.” Der ehrwürdige Serafim von Sarov hat diese Gebetsregel für die Laien hinterlassen. Er sagte, dass derjenige, der diese Regel befolgt, mit Gottes Hilfe ein hohes Maß an geistlicher Vollkommenheit erlangen kann, wenn er alles in Demut tut.
Besonderheiten der Morgen- und Abendgebete an Fest- und Fasttagen
Nach Ostern werden in der ganzen Lichten Woche statt der gewöhnlichen Morgen- und Abendgebete die österlichen Horen gebetet. Diese Horen bestehen aus folgenden Gebeten:
“Christus ist auferstanden von den Toten...” (dreimal)
“Wir haben die Auferstehung Christi gesehen...” (dreimal)
“Die früh am Morgen hinauseilenden Frauen um Maria...”
Das Kontakion von Ostern “Bist Du auch ins Grab hinabgestiegen...”
Exapostilarion “Im Fleische entschliefst Du...”
“Herr, erbarme Dich” (40 mal)
“Ehre sei dem Vater...”, “Die Du ehrwürdiger bist als die Cherubim...”
“Christus ist auferstanden von den Toten...” (dreimal)
Die österlichen Horen sind ebenfalls in den Gebetbüchern enthalten. Wie in der Kirche, so sollten die österlichen Horen auch zu Hause gemäß der österlichen Tradition nach Möglichkeit gesungen und nicht gelesen werden.
Während der Großen Fastenzeit wird zu den Gebetsregeln noch das Gebet des heiligen Ephräm des Syrers hinzugefügt: “Herr und Gebieter meines Lebens...”
Das Lesen der Kanon- und Akathistoshymnen
Vor dem Beginn der Kanon- und Akathistos-Hymnen werden Verbeugungen gemacht (an Festtagen, Sonntagen und an deren Vorabenden nur tiefe Verbeugungen, an Wochentagen Kniefälle auf den Boden) und folgende Gebete gelesen:
“Herr, sei mir Sünder gnädig.” (Kniefall)
“Herr, reinige mich Sünder und erbarme Dich meiner.” (Kniefall)
“Der Du mich geschaffen hast, Herr, erbarme Dich meiner.” (Kniefall)
“Ich habe ohne Zahl gesündigt, Herr, verzeihe mir.” (Kniefall)
“Meine Gebieterin, Allheilige Gottesgebärerin, errette mich Sünder.” (Kniefall)
“O Engel Christi, mein heiliger Beschützer, bewahre mich vor allem Übel.” (Kniefall)
“Heiliger Apostel (oder Märtyrer oder ein anderer Heiliger, dessen Namen wir tragen), bitte Gott für mich.” (Kniefall)
“Durch die Gebete unserer heiligen Väter, erbarme Dich unser, Herr Jesus Christus, unser Gott. Amen.” “Ehre sei Dir, unser Gott, Ehre sei Dir.” “Himmlischer König...”
“Heiliger Gott...” (dreimal). “Ehre sei dem Vater...” “Allheilige Dreifaltigkeit...” “Herr, erbarme Dich” (dreimal) “Ehre sei dem Vater...” “Vater unser...” “Herr, erbarme Dich” (zwölfmal) “Ehre sei dem Vater...” “Kommt, lasst uns anbeten...” (dreimal)
Psalm 50
Glaubensbekenntnis
Danach werden die Kanon- und Akathistos-Hymnen gelesen.
Nach deren Lesung: “Wahrhaft würdig ist es...” (Kniefall), Trishagion bis “Vater unser...”, danach die gewöhnliche Abendregel (Abendgebete).
Gebete für besondere Anlässe
Fromme Christen beten nicht nur morgens und abends, sondern auch im Laufe des Tages bei verschiedenen Anlässen, sie bitten um die Hilfe des Heiligen Geistes für jede gute Tat, danken dem Herrn für ihr erfolgreiches Gelingen, beten vor und nach dem Essen, in Zeiten der Not, vor einer Reise, für Kranke, für Verstorbene usw.
Vor dem Beginn jeder Tat wird das Gebet zum Heiligen Geist “Himmlischer König...” gesprochen oder das kurze Gebet “Herr, segne!”, nach ihrer Ausführung “Ehre sei Dir, o Herr!”.
Vor dem Essen betet man das “Vater unser”; nach dem Essen: “Wir danken Dir, Christus, unser Gott, dass Du uns satt gemacht hast durch Deine irdischen Güter, nimm Dein himmlisches Reich nicht von uns, sondern wie Du mitten unter Deine Jünger getreten bist, Erlöser, und ihnen den Frieden gegeben hast, komme auch zu uns und errette uns.”
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Literatur
- Orthodoxes Gebetbuch in deutscher Sprache, 3. Auflage, Berlin/München 2004, Kloster d. Hl. Hiob von Počaev, ISBN 3-935217-13-7.
- Berliner Diözese der Russischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats (Hrsg.): Orthodoxes Gebetbuch, bearbeitet von Benedikt Schneider, Berlin 2006, ISBN 5-98187-164-4.
- Orthodoxe Kirche in Deutschland (Hrsg.): Orthodoxes Gebetbuch, Stuttgart 1972, Verlag Orthodoxe Rundschau.
- Rumänische Orthodoxe Metropolie von Deutschland, Zentral- und Nordeuropa (Hrsg.): Orthodoxes Gebetbuch (rumänisch-deutsch), München 2011, ISBN 978-973-1963-18-1.
Siehe auch
Weblinks
- P. Nikolai Wolper: Wie Orthodoxe beten
- Das Gebet in der Kirche
- Sammlung orthodoxer Gebete