Gregorianismus: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 7. Dezember 2010, 23:24 Uhr
Der Gregorianismus war eine schismatische Bewegung in der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) der 1920er bis 1940er Jahre, einer Zeit der Wirren, in denen die Kommunikation zwischen den Diözesen und der Kirchenleitung extrem erschwert war. Seit den späten 1920er Jahren hatte die ROK keinen klar definierten Rechtsstatus mehr, der es ermöglicht hätte, ein Konzil einzuberufen, um die Positionen der Kirche festzulegen und ihre Angelegenheiten zu regeln. Da die Kirche illegal war, war es schwierig, die kanonischen Hierarchien aufrechtzuerhalten und so die Einheit zu wahren und Häresien und Spaltungen zu vermeiden. Auch Übereinkünfte zwischen Kirche und Staat waren gefahrvoll, denn sie hätten der Kirche jene Eiferer entfremden können, die mit dem “gottlosen Regime” nicht zusammenarbeiten wollten.
Besonders kritisch war die Situation im Jahr 1925, als Patriarch Tichon im April dahingeschieden war und auf seinen Wunsch Metropolit Petrus (Pjotr) (Poljanski) Patriarchenstatthalter wurde. Schon nach wenigen Monaten, Mitte Dezember, wurde Metropolit Petrus als Opfer der Verfolgung der Kirche durch die Sowejtische Regierung verhaftet und musste damit seine (ihm nach dem Willen von Patriarch Tichon verliehene) Macht an den stellvertretenden Patriarchenstatthalter Metropolit Sergius (Starogorodski), den künftigen Patriarchen, abtreten. Die häufigen Wechsel an der Kirchenspitze erweckten im Volk den Eindruck, dass die Kirche ohne Führung sei. Diese Situation wurde von Erzbischof Grigori (Jatskowski) von Swerdlowsk (1866-1932) und einer Gruppe Verbündeter ausgenutzt, darunter Bischof Boris (Rukin) von Moschaisk, Bischof Damian (Woskresenski) von Perejaslawl, Bischof Wissarion (Zorin) von Uljanowsk, Bischof Innokenti (Busygin) von Kamensk und andere. Einige Tage, bevor Erzbischof Petrus verhaftet wurde, hatte diese Gruppe von Hierarchen Anweisungen von der Staatlichen politischen Verwaltung (GPU) und Ewgeni Tutschkow, dem Leiter der GPU-Abteilung für den Kampf gegen Religion, erhalten. Das Schisma war also im Voraus geplant worden.
Die erste Maßnahme von Erzbischof Grigori und seinen Verbündeten war die Bildung eines Provisorischen Obersten Kirchenrats (im folgenden kurz “Rat” genannt), auch bekannt als Kleines Bischofs-Konzil – eine Körperschaft, die die laufenden Angelegenheiten der Kirche regeln sollte. Zehn Bischöfe unter dem Vorsitz von Erzbischof Grigori trafen sich am 25. Dezember 1925 im Donskoi-Kloster in Moskau und kritisierten scharf die Amtsführung des Kirchenoberhauptes Metropolit Petrus: “In seiner Amtszeit haben sich die Probleme und Unglücke der Heiligen Kirche verschlimmert.” Die Kirche werde nicht “katholisch” regiert, und “der Wille der Heiligen Kirche scheint zu verblassen hinter dem einzelnen menschlichen Willen” von Metropolit Petrus.
Nicht nur an seiner Führung der Kirchengeschäfte wurde gekrittelt, sondern auch an seinen politischen Entscheidungen:“Die Kirche, mit unserem Herrn Jesus Christus an der Spitze und geleitet von der Gnade des Heiligen Geistes, kann ihrer Natur nach nicht fehlen oder Sünden begehen und lehrt ihre gläubigen Kinder, der Obrigkeit zu gehorchen – nicht aus Furcht, sondern aus Vernunft. Die Heilige Kirche ist ihrer Natur und ihrem ewigen Zweck nach und frei von Eitelkeit und irdischer Politik.” Der Provisorische Oberste Kirchenrat erklärte dem Staat Gehorsam und Folgsamkeit. Mehr noch: er erklärte die Legalisierung der Kirche zu einem seiner Hauptziele.
Nachdem das Kleine Konzil vorüber war, legte der Rat alle seine Bestimmungen, die Namensliste der beteiligten Bischöfe und eine Bittschrift um Erlaubnis zur Weiterbetätigung den Zivilbehörden zur Zustimmung vor. Am 2.Januar 1926 wurde dann das benötigte Zertifikat ausgefertigt.
Damit Existenz, Tätigkeit und Beschlüsse des Rates nicht etwa willkürlich oder illegal erschienen, versuchte Erzbischof Grigori, den abgeordneten Statthalter Metropolit Sergius dazu zu bringen, dem Rat beizutreten - allerdings erfolglos. So scheiterte der Rat bei dem Versuch, sich zu einer ständigen Körperschaft im kanonischen Einverständnis mit der Kirchenleitung aufzuschwingen, wie Metropolit Sergius in einem Brief an Erzbischof Grigori ausführte. Obwohl der Rat aus Bischöfen bestand, repräsentierte er nicht die Position der gesamten ROK und hatte nicht das Recht, in deren Namen mit den Behörden zu verhandeln oder Fragen der Legalisierung der Kirche zu erörtern. Metropolit Sergius erließ deshalb ein Dekret, in dem die gregorianischen Bischöfe ihrer Sitze enthoben und aus der kirchlichen Verwaltung ausgeschlossen wurden.
Die Standhaftigkeit von Metropolit Sergius und die Unbeliebtheit unter den Gläubigen erlaubte es dem Rat nicht, Einfluss auf Kirchenangelegenheiten zu nehmen. Erzbischof Grigori musste Metropolit Petrus, welcher sich damals im Exil befand,um Beistand bitten.Er bat ihn brieflich (und ohne den Bann gegen die Bischöfe des Rates und sich selbst zu erwähnen), ein Kollegium zur Verwaltung der Kirchenangelegenheiten einzurichten. Die erste Reaktion von Metropolit Petrus war durchaus positiv: “Um des Friedens und der Einheit der Kirche willen” erachtete er es als hilfreich, “eine zeitweiliges Kollegium einzurichten, um die Aufgaben des Statthalters zu übernehmen, bestehend aus den drei Priestern Erzbischof Nikolai (Dobronrawow) von Wladimir, Erzbischof Dimitry (Belikow) von Tomsk und Erzbischof Grigory (Jatskowski).” Und so wurde dieses Kollegium nach Petrus‘ Vorstellung in allen kirchlichen Belangen das Sprachrohr der Kirchenleitung und benötigte nur in Angelegenheiten von landesweiter Bedeutung noch seine eigene Zustimmung. Metropolit Petrus zweifelte nicht an der Eignung der drei Kandidaten. Zudem bestätigte die Regierung seine Wahl und versprach, eine vom Kollegium eingesetzte Kirchenverwaltung zu legalisieren.
Die Gregorianer schienen einen Sieg davongetragen zu haben, und Erzbischof Grigori verlangte, dass Metropolit Sergius seine Befugnisse an das neugegründete Kollegium abtreten solle. Aber Metropolit Petrus hatte noch immer das letzte Wort, und am 9. Juni 1926 widerrief er seinen Beschluss vom 1. Februar und setzte alle Dekrete von Metropolit Sergius wieder in Kraft, womit die gregorianischen Bischöfe wieder von ihren Sitzen und Diensten suspendiert wurden.
Nach diesem Beschluss vom 9. Juni 1926 nahm die gregorianische Bewegung tatsächlich die Züge einer Abspaltung an – illegale Gemeinden entstanden, die den Bann, den das Oberhaupt der Kirche ausgesprochen hatte, ignorierten. Ein Teil der Bischöfe verließ den Rat und kehrte reumütig zu Metropolit Sergius zurück. Die Reihen der Ratsmitglieder wurden daraufhin von Bischöfen aufgefüllt, die Grigori ernannt hatte.
Das Zentrum des Gregorianismus war Swerdlowsk, und auch Westsibirien und der Ural, die mittlere Wolga und das Donetsk-Becken standen unter seinem Einfluss, der auch in Dnepropetrovsk und Uman in der Ukraine spürbar war; in Moskau hatte er eine Kirche im Donskoi-Kloster und eine im StadtteilSamoskworetschje.Im Ganzen gesehen erfuhr die von den Bischöfen initiierte Abspaltung aber wenig Zuspruch von Seiten des niederen Klerus und der Gemeindemitglieder. Der gregorianischen Bewegung fehlte ein starker, überzeugender Führer. Erzbischof Grigori hatte wenig Weitsicht, und Bischof Boris (Rukin) stellte seine eigenen Interessen über jene der Kirche. Metropolit Mitrofan (Simaschkewitsch) und Erzbischof Konstantin (Bulytschew) von Mogilew waren vorher schon bei der “Erneuerungs”-Abspaltung dabei gewesen, obwohl in den “Briefen des Provisorischen Obersten Kirchenrats an die Gläubigen” beteuert wurde, dass die Gregorianer keinerlei Kontakt mit den Erneuerern und ihrem Synod unterhalten würden. Erzbischof Ioanniki (Sokolowski) verließ die Gregorianer und schloss sich der Lubenski-Abspaltung an. Einige gregorianische Erzpriester wechselten mehrmals zu Sergius über und wieder zurück. Wenige Teilnehmer dieser Kirchenabspaltung waren Menschen von festen Überzeugungen, die in der Lage gewesen wären, eine große Zahl an Gefolgsleuten zu rekrutieren und so das Fundament der Wahren Kirche zu erschüttern.
Im April 1927 musste die gregorianische Bewegung einen weiteren Rückschlag hinnehmen. Metropolit Sergius unterbreitete Metropolit Petrus einen Entwurf für eine synodale Struktur und nahm Kontakt mit den Zivilbehörden auf, um die Kirche zu legalisieren. Damit war die Sache des Rates endgültig verloren. Seine Legalisierung 1926 hatte sich als kraftlos erwiesen, da sie nur von den weltlichen Gewalten anerkannt worden und kein gesetzlicher und gesegneter Erbe und Nachfolger der kirchlichen Macht gewesen war.
Im November 1927 fand der letzte allgemeine Kirchenkongress der gregorianischen Bischöfe statt. Dem Rat gelang es nicht, zu einer repräsentativen Körperschaft der Kirche zu werden. Schwach und ohne Gefolgschaft seitens der normalen Gläubigen, war er für die Obrigkeit nicht mehr vonnöten. Im selben Jahr übergab Erzbischof Grigori die Führung des Rates an Erzbischof Wissarion (Zorin), welcher ihn zusammen mit Bischof Boris (Rukin) 1933 jedoch verließ. Nach dem Rückzug ihrer Führer verfiel die gregorianische Abspaltung immer mehr, bis sie Mitte der 1940er Jahre gänzlich verschwand.